PLÄDOYER FÜR EIGENVERANTWORTUNG

Alpinismus als Trendsport 

Immer mehr Menschen entdecken die Berge als Quelle des Ausgleichs und der Erholung. Klettersteige, aber auch Kletterrouten und Skitouren weisen zunehmende Frequenzen auf. Für einen Nicht-Alpinisten kann sogar ein Klettersteig sehr eindrücklich sein: Praktisch ohne spezifische Fähigkeiten lässt sich dort die Ausgesetztheit einer vertikalen Felswand erleben. Ähnlich verhält es sich mit Plaisir-Touren: Dank kleinen Hakenabständen und moderaten Schwierigkeitsgraden bleiben die schönen Felswände nicht mehr nur den elitären Freaks vorenthalten. Nein, auch ein Neuling mit ein paar Abenden Kletterhalle-Erfahrung kann sich dort in die Vertikale wagen. Durch das zunehmende Interesse breiterer Bevölkerungsschichten wird diese Form des Alpinismus auch kommerziell zunehmend interessant und wird entsprechend gefördert. Das hat auch Schattenseiten: Der zusätzliche Druck auf die Umwelt (Pflanzen, Tiere) veranlasst z. B. Jäger, zum Ausgleich neue Schutzzonen auszuscheiden. Diese Zonen umfassen typischerweise touristisch wenig genutzte, kommerziell uninteressante Gebiete, in denen dann Restriktionen bezüglich des Kletterns drohen. 



Nebeneinander 
Die Berge bieten nicht beliebig viel Platz. Neben den erwähnten Klettersteigen und Plaisir-Routen sollen auch unsanierte Klassiker und «wilde» Routen erhalten werden, welche kritische Selbsteinschätzung und eigenverantwortliches Handeln verlangen. Routen, die nicht gratis zu haben sind, sondern Vorbereitung und Engagement erfordern. Routen, von denen man jahrelang träumt und die einen an tristen Spätherbsttagen zum Training motivieren. Es darf Traumtouren geben, denen man momentan nicht gewachsen ist und vielleicht nie gewachsen sein wird. Die Mentalität, dass solche Touren gefälligst so «saniert» werden sollen, dass sie für jeden möglich werden, ist typisch für eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist. Dabei ist doch gerade das Unkäufliche wertvoll. Eine 7b-Tour, die einen obligatorischen Schwierigkeitsgrad von 6a aufweist, wie man sie beispielsweise im Tessin findet, macht niemanden glücklich: Die 6a-Kletterer müssen weite Strecken A0 klettern, was wenig Spass macht und die 7b-Kletterer andererseits ärgern sich über die A0-Bohrhaken-Ferratas, die aus der Kletterstellung oft kaum zu klinken sind. In leichterem Gelände kann eine Plaisir-Route hingegen durchaus Sinn machen, sofern sie dort in den Kontext passt. 
Kurzum: DEN allgemein gültigen Stil gibt es nicht. Ganz auf Bohrhaken zu verzichten ist im einen Fall genau so angebracht wie das Einbohren eines Klettersteigs im andern Fall, um zwei Extreme zu nennen. Folglich sollte ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Philosophien gewahrt werden. 



Risiko und Eigenverantwortung 
Das heutige Leben ist durchorganisiert, geregelt und völlig (ver)sicher(t). Jeder Mensch trägt aber ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Risiko und Herausforderung in sich. Der Versuch, dieses Bedürfnis zu unterdrücken, kann im Extremfall zu Depressionen führen. Ein Ausleben dieses Bedürfnisses, zum Beispiel auf der Strasse oder der Skipiste, kann ebenfalls fatale Folgen haben – für die Betroffenen selber, aber auch für Unbeteiligte. 

Peter in der «Deep Blue Sea»
Peter in der «Deep Blue Sea»

Auch das Sportklettern in alpinen Routen mit weiten Hakenabständen beinhaltet naturgemäss gewisse Risiken. Diese Risiken können aber durch eigenverantwortliches Verhalten minimiert werden. Das tatsächliche Risiko, dass man sich in gutem Sturzgelände in einer knapp abgesicherten, soliden Route bei einem Sturz ernsthaft verletzt, ist oft deutlich geringer als das subjektiv empfundene Risiko. Mit vergleichsweise kleinem tatsächlichen Risiko kann man daher hier die grosse Befriedigung erfahren, die eigenen körperlichen und psychischen Grenzen auszuloten, am persönlichen Limit den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, eigenverantwortlich zu entscheiden, die Kontrolle zu behalten und noch zu «funktionieren». Deshalb ist es wichtig, dass es – nebst Klettersteigen, Plaisir-Routen und den echt gefährlichen Routen – auch Platz für die knapp abgesicherten, aber bei richtiger Selbsteinschätzung und entsprechendem Können relativ risikoarmen alpinen Sportkletter-Routen gibt. Als typisches Beispiel im Berner Oberland für eine solche Route darf die Traumtour Deep Blue Sea am Genferpfeiler (Eigernordwand) genannt werden.

 

Peter von Känel